Neuartige Organoide wachsen und funktionieren wie echtes Gewebe

Wissenschaftler an der EPFL, haben in der Petrischale einen Miniaturdarm erzeugt, der in anatomischer und funktionaler Hinsicht dem natürlichen Darm näher kommt als alle anderen bisher im Labor gezüchteten Gewebemodelle. Die biologische Komplexität und Langlebigkeit der neuen Organoidtechnologie ermöglichen neuartige Anwendungen in der Arzneimittelprüfung, personalisierter Medizin und eines Tages vielleicht auch bei Transplantationen.


Organoide sind auf dem besten Wege, sich als eines der herausragendsten Werkzeuge der modernen Biologie und Biotechnologie zu etablieren. Das Prinzip besteht darin, mithilfe von Stammzellen miniaturisierte Gewebe und Organe zu erzeugen, die in ihrem Aufbau und ihrer Funktionsweise ihrem natürlichen Pendant sehr ähnlich sind.

Der Nutzen von Organoiden für die Forschung und Medizin liegt auf der Hand: Von der biologischen Grundlagenforschung bis hin zur Arzneimittelentwicklung könnten Organoide Tierversuche ergänzen und durch die Bereitstellung von gesundem oder krankem menschlichem Gewebe den langen Weg vom Labor bis zur klinischen Studie verkürzen helfen. Darüber hinaus gibt es erste Hinweise, dass die Organoidtechnologie in Zukunft möglicherweise als Ersatz für geschädigtes Gewebe oder gar Organe eingesetzt werden könnte: Dazu würde man Stammzellen vom Patienten entnehmen und aus diesen eine neue Leber, ein neues Herz, neue Nieren oder eine neue Lunge züchten.

Bis jetzt sind die etablierten Methoden zur Herstellung von Organoiden allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden: Stammzellen entwickeln sich unkontrollierbar zu zirkulären und geschlossenen Geweben mit nicht-physiologischer Grösse und Form und sehr kurzer Lebensdauer. Daher unterscheiden sich konventionelle Organoide von natürlichen Organen in ihren anatomischen Merkmalen, ihrer zelltypischen Zusammensetzung und wichtigen Funktionen.

Zellwachstum lenken

Nun haben Wissenschaftler einer Arbeitsgruppe unter der Leitungvon Matthias Lütolf am Institute of Bioengineering der EPFL einen Weg gefunden, wie Stammzellen so „gelenkt“ werden, dass sie ein Darmorganoid bilden, das genauso aussieht und funktioniert wie natürliches Gewebe. Die im Fachmagazin Nature veröffentlichte Methode macht sich die Fähigkeit von Stammzellen zunutze, zu wachsen und sich an einem röhrenförmigen Gerüst in einen mikrofluidischen Chip (einen Chip mit winzigen Kanälen, in welchen kleine Flüssigkeitsmengen präzise manipuliert werden können) entlang anzuordnen, das die Oberfläche von natürlichem Gewebe nachahmt.

Die Forscher der EPFL verwendeten einen Laser, um dieses darmförmige Gerüst in einem Hydrogel (ein weiches Gel aus vernetzten Eiweissen, wie es im Bindegewebe des Darms zu finden ist) herzustellen. Neben seiner Rolle als Substrat, auf dem die Stammzellen wachsen können, gibt das Hydrogel auch die Form für die Bildung des Darmgewebes vor.

Nachdem sie in das darmähnliche Gerüst eingebracht wurden, breiteten sich die Stammzellen innerhalb von Stunden über das Gerüst aus und bildeten eine durchgehende Zellschicht mit charakteristischen Kypten und zottenähnlichen Bereichen. Dann kam es zur Überraschung: Die Wissenschaftler stellten fest, dass die Stammzellen einfach „wussten“, wie sie sich anzuordnen hatten, um einen funktionierenden Minidarm zu bilden. 

Entstehen von seltenen und spezialisierten Zellen

„Es sieht so aus, als ob die Geometrie des Hydrogel-Gerüsts mit seinen kryptenförmigen Vertiefungen unmittelbar das Verhalten der Stammzellen steuert, so dass diese in den Vertiefungen gehalten werden und sich in Bereichen ausserhalb der Vertiefungen differenzieren, genau wie natives Gewebe“, kommentiert Lütolf. Die Stammzellen passten sich nicht nur der Form des Gerüsts an, sie produzierten zudem alle wichtigen differenzierten Zelltypen, wie sie im natürlichen Darm vorliegen, darunter mehrere seltene und spezialisierte Zelltypen, die in Organoiden normalerweise nicht zu finden sind.

Darmgewebe hat die höchsten Zellerneuerungsraten im Körper, weshalb sich grosse Mengen an abgestorbenen Zellen ablösen und im Lumen von herkömmlichen (d.h. geschlossenen) Organoiden ansammeln. Um diese über einen längeren Zeitraum zu kultivieren, müssen sie daher jede Woche in kleine Fragmente zerlegt werden. Langzeitstudien sind daher nicht möglich. „Mit dem neuen Mikrofluidik-System können wir nun diese Miniaturdärme wirksam perfundieren und ein langlebiges homöostatisches Organoidsystem schaffen, in dem das Neubilden und Absterben von Zellen in ausgewogener Weise erfolgt“, sagt Mike Nokolaev, der erste Autor der Publikation.

Die Forscher zeigen, dass diese Miniaturdärme zahlreiche Funktionsmerkmale mit ihren In-vivo-Pendants gemeinsam haben. dBeispielsweise können sie sich nach einer erheblichen Gewebeschädigung regenerieren, und sie können zur Modellierung von Entzündungsprozessen verwendet werden oder aber Wirt- Mikroben-Interaktionen ermöglichen, wie sie mit anderen in Labors gezüchteten Gewebemodellen bisher nicht durchführbar waren. 

Ferner weist dieser Ansatz weit reichende Anwendungspotentiale für das Anzüchten von Miniaturgewebe aus Stammzellen anderer Organe wie Lunge, Leber oder Pankreas sowie von menschlichen Biopsien auf. „Unsere Arbeit zeigt, dass Tissue Engineering Möglichkeiten bietet, um die Organoidentwicklung zu kontrollieren und neuartige Organoide von hoher physiologischer Relevanz zu entwickeln. Dies eröffnet viel versprechende Perspektiven für die Krankheitsmodellierung, Arzneimittelforschung, Diagnostik und regenerative Medizin“, so Lütolf.

Finanzierung

Fonds national suisse de la recherche scientifique (FNS)

NCCR Bio-Inspired Materials

EU Horizon 2020 INTENS

Initiative Santé personnalisée et technologies associées (PHRT)

Novartis Foundation for Medical-Biological Research

EMBO

Referenzen

Mikhail Nikolaev, Olga Mitrofanova, Nicolas Broguiere, Sara Geraldo, Devanjali Dutta, Yoji Tabata, Nathalie Brandenberg, Irina Kolotuev, Nikolche Gjorevski, Hans Clevers, Matthias P. Lutolf. Homeostatic mini-intestines through scaffold-guided organoid morphogenesis. Nature 16 September 2020. DOI: 10.1038/s41586-020-2724-8