Künstliche Intelligenz kann COVID-19 in der Lunge sehen und hören

© Tania Di Paola - EPFL 2020 / iStock

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Forschende von der EPFL entwickelten Deep-Learning-Algorithmen, die COVID-19 in Lungenaufnahmen und Atemgeräuschen automatisch identifizieren können. Die Algorithmen werden auch im Kampf gegen andere Atemwegserkrankungen und dem wachsenden Problem der Antibiotikaresistenz hilfreich sein. 

Für Dr. Mary-Anne Hartley, Ärztin und Forscherin der Gruppe von intelligent Global Health (iGH) der EPFL war das Jahr 2020 unerbittlich. «Es ist keine entspannende Zeit, um Infektionskrankheiten zu studieren», erklärte sie. 

Ununterbrochen arbeitet das Forschungsteam von Dr. Hartley seit dem Beginn der COVID-19-Pandemie zusammen mit neun Schweizer Universitätsspitälern an zwei grossen Projekten. Mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) konnten neue Algorithmen entwickelt werden, die mittels Daten aus Ultraschallbildern und Auskultation (Brust/Lunge) das neuartige Coronavirus bei Patienten genau diagnostizieren und vorhersagen können, wie schwer sie voraussichtlich erkranken werden. 

iGH gehört zum Machine Learning and Optimization Laboratory von Professor Martin Jaggi, einem weltweit führenden Zentrum von KI-Spezialisten, das Teil der Fakultät für Computer- und Kommunikationswissenschaften der EPFL ist. «Wir haben die neuen Deep-Learning-Algorithmen DeepChest (Verwendung von Lungenultraschallbildern) und DeepBreath (mittels digitalen Stethoskops abgehörte Atemgeräusche) genannt. KI hilft uns dabei, komplexe Muster bei diesen klinischen Basisuntersuchungen besser zu verstehen. Die bisherigen Ergebnisse sind sehr vielversprechend», berichtete Professor Jaggi.

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Zwei beteiligte Universitätsspitäler 

Das CHUV, das Universitätsspital Lausanne, leitet den klinischen Teil des DeepChest-Projekts und sammelt Tausende von Lungenultraschallbildern von Patienten mit Covid-19-kompatiblen Symptomen, die in die Notaufnahme eingeliefert werden. Laut Dr. Noémie Boillat-Blanco, der leitenden Forscherin, begann das Projekt 2019. In einem ersten Schritt ging es darum, Marker zu identifizieren, mit welchen virale und bakterielle Lungenentzündungen besser voneinander unterschieden werden können. Im Jahr 2020 jedoch wurde COVID zunehmend zum Schwerpunkt des Projekts. «Viele der Patienten, die sich bereit erklärten, an unserer Studie teilzunehmen, hatten Angst und waren sehr krank», sagte sie. «Aber sie wollten einen Beitrag zur breiteren medizinischen Forschung leisten, genau wie wir. Ich denke, es gibt eine kollektive Motivation, aus dieser Krise etwas zu lernen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse rasch in die tägliche medizinische Praxis zu integrieren.» 

Am HUG, dem Genfer Universitätsspital, sammelte Professor Dr. Alain Gervaix, Leiter der Abteilung Frauen, Kinder und Jugendliche, seit 2017 Atemgeräusche, um ein intelligentes digitales Stethoskop, das «Pneumoskop», zu entwickeln. Ursprünglich als Projekt für die besseren Diagnosen von Lungenentzündungen konzipiert, lenkte das neuartige Coronavirus seine Arbeit in andere Bahnen. An der EPFL wurden so die früher gewonnenen Daten zur Entwicklung des DeepBreath-Algorithmus verwendet. Er wird voraussichtlich bis Ende Jahr 2020 bereitstehen und soll die Diagnose von COVID-19 anhand von Atemgeräuschen möglich machen. Erstaunlicherweise deuten erste Ergebnisse darauf hin, dass DeepBreath sogar in der Lage ist, asymptomatisches COVID zu erkennen, indem Veränderungen im Lungengewebe festgestellt werden, bevor der Patient sie bemerkt. 

«Pneumoskopie mit dem DeepBreath-Algorithmus lässt sich mit Anwendungen vergleichen, die Musik anhand einer kurzen Abspielprobe identifizieren können. Die Idee kam mir mit meiner Tochter, als ich ihr erklärte, dass ich beim Abhorchen Geräusche hören kann, die mir helfen, Asthma, eine Bronchitis oder Lungenentzündung zu erkennen», sagte Professor Gervaix.

Kodierkenntnisse aus der ganzen Welt 

Die Algorithmen wurden auf der EPFL website vorveröffentlicht, doch bleibt noch viel zu tun. Im März 2020 rief Dr. Hartley die EPFL-Gemeinschaft dazu auf, bei einem einjährigen Hackathon namens «CODED-19» mitzumachen. «Wir arbeiten weiter an der Verfeinerung und Validierung der Algorithmen sowie daran, die komplexe Black-Box-Logik für Ärzte einfacher interpretierbar zu machen. Wir wollen robuste und vertrauenswürdige Instrumente schaffen, die auch nach der Pandemie noch von Nutzen sind.» Zudem wird an der Entwicklung einer Anwendung gearbeitet, mit der diese komplexen Deep- Learning-Algorithmen auch auf Mobiltelefonen funktionieren, selbst in den entlegensten Regionen. «Keine dieser Arbeiten wäre möglich gewesen ohne die unglaublichen Studierenden und Forschenden aus aller Welt, die in dieser turbulenten Periode ihre Zeit und ihr Fachwissen zur Verfügung gestellt haben», ergänzte sie. 

Hartley, Boillat-Blanco und Gervaix sind dabei, weitere Daten zu sammeln. Unabhängig von COVID ist die Lungenentzündung, an der jedes Jahr mehr als eine Million Kinder sterben, nach wie vor eine der Haupttodesursachen bei unter Fünfjährigen. Sie ist auch eine der Hauptursachen für Antibiotikaresistenzen, von denen vor allem einkommensschwache Länder und Gemeinschaften betroffen sind. Hartley sagt dazu: «Wir wollen Daten von unterrepräsentierten Gemeinschaften sammeln, damit unsere Instrumente auch unter ungünstigen Bedingungen präzise Ergebnisse liefern. Unser Algorithmus wurde beispielsweise speziell dafür entwickelt, Fehler bei der Erhebung von Bild- oder Tonmaterial und inkonsistente Qualität, die in solchen Umgebungen wahrscheinlicher sind, zu tolerieren.» Es sind auch bereits Arbeiten im Gange, um diese Modelle zur Unterscheidung zwischen viraler und bakterieller Lungenentzündung zu erweitern und man hofft, damit den Einsatz von Antibiotika drastisch reduzieren zu können. 

Motiviert durch das Potenzial für eine dezentralisierte Patientenverwaltung, signifikante Verbesserungen der Gesundheitsergebnisse, geringere Kosten und einen Beitrag zur Antibiotic Stewardship, finanzierte Hartley einige Datenerfassungssonden aus der eigenen Tasche. Diese Sonden sollen Anfang 2021 in Tuberkulosegebiete in Südafrika gebracht werden. Derzeit versucht Hartley, Finanzmittel für die breitere Umsetzung des Projekts zu sammeln. 

«COVID hat die Menschen für die Verwundbarkeit der öffentlichen Gesundheit und ihre enorme Komplexität sensibilisiert. Die Notwendigkeit, gross angelegte KI-Forschungen durchzuführen, um schnell aufkommende Daten zu analysieren und darauf zu reagieren, war noch nie so offensichtlich wie heute. Hoffen wir, dass die Bemühungen über die Pandemie hinaus anhalten und genutzt werden können, um einen gerechten Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen», schloss Hartley. 


Autor: Tanya Petersen

Source: EPFL