Ab- oder anschlussfähig: Haltestelle Matura mit Anschluss zur Uni?
Wie muss die gymnasiale Ausbildung weiterentwickelt werden, um sie an eine Welt anzupassen, die sich schnell verändert und deren Orientierungspunkte weniger überschaubar werden? Welche Kompetenzen müssen den Schülerinnen und Schülern vermittelt werden, damit sie in der Lage sind, sich den aufkommenden Herausforderungen zu stellen? Wie kann man mit den Hochschulen enger zusammenarbeiten, um mehr Kohärenz zu erreichen? Ist der neue Rahmenlehrplan die Grundlage, auf der das Gymnasium der Zukunft ruht?
Diesen Fragen sind wir im Gespräch mit Herrn Stefan Zumbrunn-Würsch auf den Grund gegangen. Er trägt vielerlei Hüte: Ehemaliger Rektor der Kantonsschule Solothurn (KSSO), Gründungsrektor der Kantonsschule Rotkreuz (ZG) sowie seit 2021 denjenigen als Präsident der Konferenz Schweizerischer Gymnasialrektorinnen und Gymnasialrektoren (KSGR). Demzufolge haben wir das Glück, mehrere Perspektiven in Betracht ziehen zu können.
Herr Zumbrunn-Würsch, wenn Sie einen Kurs über ein Thema geben müssten, was würden Sie unterrichten?
Ich würde den Umgang mit Unsicherheit unterrichten, da ich sehe, dass unsere Jugendlichen vermehrt mit diesem Thema konfrontiert sind. Ich sehe es als Verantwortung der Schule an, die Resilienz aufzubauen.
Dies ist für mich eine der grössten Herausforderungen für das Bildungssystem, parallel zum Erwerb der fachlichen Kompetenzen. Natürlich müssen die Schülerinnen und Schüler auch auf Nachhaltigkeit und Beziehungsfähigkeit in einer sich wandelnden Gesellschaft vorbereitet werden. Mit diesen transversalen Kompetenzen im Gepäck, hoffe ich, dass sie besser auf ein Universitätsstudium vorbereitet sein werden.
Die Schule hat die Verantwortung, Resilienz aufzubauen. Können Sie ein paar Beispiele geben?
Wenn wir über die verschiedenen Kompetenzen nachdenken, die das Gymnasium vermitteln soll, war die Covid-19-Pandemie ein aufschlussreiches Beispiel. Sie hat uns gezeigt, wie viel Eigenverantwortung wir den Schülerinnen und Schülern in ihrem Lernprozess zugestehen können, aber auch, wie wichtig es ist, das soziale Gefüge einer Klasse aufrechtzuerhalten, das für die Entwicklung von Beziehungsfähigkeit und Querschnittskompetenzen notwendig ist. Der Einsatz digitaler Medien in der Bildung ist ein wichtiger Schritt in Richtung Autonomie und eine Entwicklung, die ich sehr befürworte, aber wir müssen ein Gleichgewicht finden. Ich glaube, dass Lernprozesse eine echte soziale Bindung brauchen, um zu funktionieren.
Ein weiteres Beispiel: Ich stelle die Bedeutung von Schwerpunktfächern relativiert dar und ermutige nicht dazu, Klassen mit einem bestimmten Profil zu bilden. In Klassen mit einer Vielfalt an Schwerpunktfächern ist der Austausch viel reicher. Eine solche Konstellation zwingt die Schülerinnen und Schüler, sich mit unterschiedlichen Sichtweisen auseinanderzusetzen, und fördert die Resilienz.
Abschluss- oder anschlussfähig?
Die Frage ist, ob Schülerinnen und Schüler nach dem Gymnasium abschluss- oder auch anschlussfähig sind. Während die fachlichen Kompetenzen für den Erwerb der Maturität zweifellos unerlässlich sind, sollte die gymnasiale Ausbildung meiner Meinung nach auch darauf ausgerichtet sein, den Übergang zu einem Hochschulstudium zu erleichtern. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, wäre, einen Übergang von der Pädagogik der Sekundarstufe I zu den Lehrmethoden der Universitäten anzubieten. Erstere würde zu Beginn des gymnasialen Bildungsgangs angewandt und dann würden den Schülerinnen und Schülern nach und nach universitäre Lehrformate angeboten werden. Warum nicht Hörsaalunterricht, Gruppenarbeiten? Oder Projekte, die den Einsatz wissenschaftlicher Methoden und die Suche kreativer Lösungsfindung erfordern? Meiner Meinung nach sollten sich Lehrerinnen und Lehrer nicht nur als Fachpersonen für ein Gebiet positionieren, sondern ihrer Rolle als Pädagoginnen und Pädagogen mehr Bedeutung schenken.
Der neue Rahmenlehrplan bietet hierfür die Grundlage. Die Umsetzung gelingt jedoch nur, wenn den Lehrpersonen klar ist, dass auch aus Sicht der Hochschulen diese Kompetenzen gefragt sind. Dafür ist der Dialog zwischen den Gymnasien und den universitären Hochschulen von entscheidender Bedeutung.
Welche Rolle spielt in dieser Hinsicht die Schnittstelle Gymnasium-Hochschule?
Die Qualität eines Bildungssystems zeigt sich an dessen Schnittstellen.
Für mich ist eine Übergangsphase von einem Bildungssystem ins andere erfolgreich, wenn die Personen einen guten Anschluss finden, also wenn wir als Gymnasium eine gute Brücke geschlagen haben, aber auch wenn der erste Teil des Wegs am anderen Ufer hürdenlos gepflastert ist.
Wie erreichen wir das? Als Erstes gilt es, ein gemeinsames Verständnis der Herausforderung zu schaffen. Die Schnittstellen Gymnasium-Hochschulen bieten dafür eine ideale Plattform. Zwar ist der fachliche Austausch sehr wichtig, zusätzlich sollten aber auch Aspekte der Pädagogik diskutiert werden: Welche Kompetenzen erfordert ein Hochschulstudium? Was sind die neuesten Lehr- und Lernmethoden? An was fehlt es in der Sekundarstufe, um den Übertritt zu erleichtern? Wie kann die Hochschule die Lehrpersonen unterstützen?
Stellen wir uns solchen Fragen, können wir meiner Meinung nach den klassischen Klischees entweichen, da wir, also die Gymnasien sowie die Hochschulen, uns gemeinsam mit dem Sachverhalt auseinandersetzen müssen. Wir können ebenfalls identifizieren, was funktioniert und was nicht, denn auf beiden Seiten finden Veränderungen statt, denen wir uns nicht zwingend bewusst sind. Gelingt der Dialog an dieser Schnittstelle, können alle Beteiligten ihren Beitrag leisten, was wiederum zur verbesserten Qualität des Bildungssystems beiträgt.
Welche Chancen und Möglichkeiten bietet der neue Rahmenlehrplan in dieser Hinsicht?
Mit dem neuen Rahmenlehrplan (RLP) haben wir nun die gesetzliche Grundlage: Die Querschnittskompetenzen werden neu den fachlichen Kompetenzen gleichgestellt, was uns ermöglicht, die Anschlussfähigkeit zu verbessern. Als Präsident der KSGR stelle ich fest, dass dies zwar ein Anliegen der Gymnasialrektorinnen und Gymnasialrektoren ist, die Umsetzung jedoch eine Herausforderung darstellt.
Meiner Meinung nach ist es wichtig, die Breite des Fächerkanons beizubehalten, aber innovativ zu sein, wie diese neuen Anforderungen eingeführt werden können. Es geht darum, mögliche Überschneidungen in Disziplinen, die heute in Silos organisiert sind, zu identifizieren, die transversale Komponente bestimmter Themenbereiche zu nutzen, um Zeit und Raum für diese neuen Ansätze zu schaffen.
Meines Erachtens tragen auch die Hochschulen ihre Verantwortung in diesem Prozess und können bei dieser Veränderung unterstützen. Ihre Nahbarkeit bleibt etwas ganz Wichtiges für die Umsetzung: Auf bilateraler Ebene gibt es zahlreiche Beispiele, wie dies erreicht werden kann: Vor einem Jahr war die EPFL mit einem Thementag bei der KSSO zu Besuch. Solche Veranstaltungen geben einen Einblick in die wissenschaftlichen Arbeitsweisen, die geforderten Kompetenzen sowie in die aktuellen Forschungsthemen. Auf institutioneller Ebene denke ich, dass sich in Gremien wie beispielsweise der Schnittstelle Gymnasium-Hochschule auch über die disziplinäre und die Kantonsgrenze hinweg ausgetauscht wird, und somit die Nahbarkeit der Hochschule sichergestellt werden kann.
Welche weiteren Elemente sind Ihrer Meinung nach wichtig für die Zukunft des Gymnasiums?
Ich denke an zwei Aspekte: Zum einen ist es eine Kernaufgabe der Schule, die Durchmischung im breiten Sinne zu fördern, und zwar nicht nur im Bezug auf die Gesellschaftsschichten, sondern auch auf die Sprachregionen. Je höher wir uns in der Bildungsstruktur bewegen, desto geringer ist die Durchmischung. Dem entgegenwirken könnten beispielsweise Klassen mit mehreren Schwerpunktfächern sowie die Stärkung des Sprachaustausches, entweder in bilingualen Schulen oder zwischen den Sprachregionen. In der Schweiz sprechen wir immer von Mehrsprachigkeit. Meiner Meinung nach ist es unsere Pflicht, diese kulturelle Vielfalt aufrecht zu erhalten. Der im neuen Rahmenlehrplan verankerte Artikel zu Austausch und Mobilität verhilft uns sicherlich, den Sprung zu wagen.
Zum anderen müssen wir uns wagen, mit Traditionen zu brechen. Mein persönliches Credo ist es, jegliche Art von Veränderung mit Innovation zu begegnen und dabei einen offenen Geist zu behalten. Klar bewege ich mich nicht in meiner Komfortzone. In einer Gesellschaft der ständigen Veränderung müssen wir nicht nur den Umgang mit Unsicherheit lehren, sondern ihn selbst auch erlernen und umsetzen. Wir, als Pädagoginnen und Pädagogen und nicht nur als Fachlehrpersonen, nehmen meiner Meinung nach eine Vorreiterrolle ein. Packen wir den Stier bei den Hörnern mit diesem neuen Rahmenlehrplan!